Die Sage von Kaindorf

Aus der Festschrift anläßlich der Markterhebungsfeier im Jahr 2000. Herausgegeben vom Gemeindeamt Kaindorf an der Sulm.

Vor alten Zeiten war die Ortschaft Kaindorf ein großes, reiches Dorf, nach einigen sogar eine Stadt gewesen, aber die Leute, die darin wohnten, waren hartherzig und gottvergessen.

Eines Abends, es war zu einer schneereichen Winterszeit, wanderte ein altes, gebrechliches Mütterchen von Haus zu Haus und bat an den Türen der Reichen um ein Stückchen Brot und um Nachtherberge. Doch überall schalt man die Bettlerin in rauher Weise und jagte sie wieder hinaus in die grimmige Kälte.

Endlich ging das Mütterchen gegen den Berg hin, wo jetzt das Schloss Seggau steht und hielt in einer kleinen Keusche um ein Nachtlager an. Es war nur die Frau zu Hause, und dieser erbarmte die arme, dürftige Gestalt der gebrechlichen Alten. Doch sie getraut es sich nicht, diese in das Haus aufzunehmen, und sagte der Bettlerin, sie würde ihr gerne helfen, aber sie fürchtet sich vor ihren bösen Manne, der sie ganz gewiß schlagen würde, wenn sie ihr gestatte in der Keusche zu übernachten.

Obwohl es inzwischen schon finstere Nacht geworden war, schleppte sich das Mütterchen doch mühselig den Berg hinan, auf dem ein vereinzeltes kleines Haus stand. Dieses gehörte einer armen Witwe, und bei der fand die alte freundliche Aufnahme und Verpflegung. Da erzählte nun diese, wie es ihr unten im Dorfe so schlecht ergangen war und wie die reichen Leute sie hartherzig abgewiesen und immer wieder von der Schwelle ihrer Türen in die grimmige Kälte fortgejagd hatten. Dafür aber würden diese Reichen und Gefühllosen in kurzer Zeit die gerechte Strafe erreichen. Der ganze Ort werde überschwemmt werden und zu Grunde gehen, kein Haus werde verschont bleiben.

Dies sagte das alte Mütterchen in einem so drohenden Tone, dass es der gutmütigen Wirtin zu grauen anfing. Sie erzählte der Alten, dass sie eine Tochter unten im Dorf habe, die sich aber sehr unglücklich fühlte, da ihr Mann sehr böse sei. Die Alte erzählte nun, dass sie auch bei dieser gewesen sei und dass sie von ihr nur aus Furcht vor ihrem bösen Manne abgewiesen wurde. Da bat denn nun die Witwe, es möge die Alte doch beten, dass ihre Tochter nichts zustoße. Das Mütterchen versprach es und zeigte mit großer Bestimmtheit, dass dieser nichts geschehen werde.

Am darauffolgenden Morgen bedankte sich die fremde Alte auf das freundlichste bei der Witwe für die ihr so liebevoll gewährte Aufnahme. Der liebe Gott möge es ihr tausendmal vergelten, sagte sie, und weil die Leute am Berg so gut sein, werde sie daselbst ein Andenken und ein Zeichen hinterlassen, dass ewig bleiben sollte. Darauf empfahl Sie sich noch einmal und verließ das Haus.

Die Witwe aber war durch diese sonderbare rede aufmerksam geworden und sah der Bettlerin nach, bis diese plötzlich vor ihren Augen verschwand. Verwundert darüber, ging sie ihren Fußspuren, die im frischen Schnee deutlich eingedrückt waren und die an einem bestimmten Platze plötzlich aufhörten. Nun wusste sie, wer diese seltsame Bettlerin gewesen war, nämlich niemand anderer als die Mutter Gottes selbst.

Die Prophezeiung ging richtig in Erfüllung. Heftige und langanhaltende Regengüsse ließen die großen Schneemassen auf den Bergen rasch schmelzen, die Laßnitz und die Sulm zwischen denen die Ortschaft leid, schwollen riesig an, traten aus ihren Ufern und setzten das ganze Dorf unter Wasser, so dass alle Häuser einstürzten und die so blühende Ortschaft ganz vernichtet wurde. Nur das Häuschen gegen den Berg zu, dass die Frau des Bösen Mannes bewohnte, blieb verschont.

Später wurde auf jenem Berge und an derselben Stelle, wo die Fußspuren im Schnee aufgehört hatten, eine Kirche zu Ehren unserer lieben Frau erbaut und Frauenberg genannt. Die allmählich wieder entstandene Ortschaft zwischen den beiden Flüssen aber erhielt den Namen Kaindorf, weil durch die Überschwemmung sämtliche Häuser zerstört wurden und kein Dorf mehr da war.